Amoklauf

Sieben Menschen sterben vor 30 Jahren im Euskirchener Amtsgericht

Von Tom Steinicke, KStA • 09.03.2024

Nach dem Amoklauf kümmerten sich Feuerwehr und Rettungsdienst um einen Schwerverletzten.

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Am 9. März 1994 tötet Erwin Mikolajczyk im Amtsgericht von Euskirchen sechs Menschen und dann sich selbst mit einer Bombe.

Es ist auch 30 Jahre später noch einer schwärzesten der Tage der Euskirchener Nachkriegsgeschichte: Am 9. März 1994 starben in einer Nebenstelle des Amtsgerichts am Dr.-Hugo-Oster-Platz sieben Menschen. Der Amokläufer Erwin Mikolajczyk erschoss kurz vor 13 Uhr auf seinem Weg in den Gerichtssaal und darin sechs Menschen – dann detonierte in seinem Rucksack eine selbstgebastelte Bombe, die auch ihn tötete.

Der 39-jährige Täter, der in Wißkirchen lebte, war kurz zuvor wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstraße in Höhe von 7200 Mark verurteilt worden. Nach dem Urteil verließ der Mann, der durch seine bizarre Aufmachung auffiel (Stirnband, Lackmantel, Knoblauch-Halskette), den Gerichtssaal, um wenig später zurückzukehren.

Amokläufer erschoss in Euskirchen unter anderem den Richter 

Bewaffnet mit einem Colt, Kaliber 45, mit dem er seine Opfer, die ahnungslos waren, eiskalt erschoss. Mikolajczyk, der neben der Bombe zwei weitere Waffen bei sich trug, ermordete den 34 Jahre alten Richter Dr. Alexander Schäfer, zudem drei Frauen, darunter seine ehemalige Lebensgefährtin, sowie zwei Männer. Einer von ihnen war der Ex-Kollege Peter Kurth, der wegen einer zu tätigenden Zeugenaussage in einem anderen Verfahren im Flur des Amtsgerichts wartete.

Der Amoklauf am Amtsgericht in Euskirchen jährt sich zum 30. Mal. Sieben Menschen starben, sieben weitere wurden teilweise schwer verletzt.

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In den Tagen nach dem 9. März 1994, einem Mittwoch, kamen immer mehr Details aus dem Leben des Erwin Mikolajczyk ans Tageslicht. Schon ein Jahr vorher war bekannt, dass er „gefährlich und abartig veranlagt“ und zudem im Besitz von Waffen war.

Mit dieser Warnung hatte sich ein Bruder an die Euskirchener Polizei gewandt, kurz bevor Erwin Mikolajczyk seine Freundin verprügelte, was ihn vor Gericht brachte. „Wenn alle damals richtig zugehört hätten, hätte die Tat vermieden werden können“, sagt Ursula Giels (damals Kurth), die beim Amoklauf ihren Mann verlor.

Nach Amtsgericht-Amoklauf: Kritik an den Behörden

Schon vor 30 Jahren mussten sich die Behörden nach dem Amoklauf dafür kritisieren lassen, dass sie den hochaggressiven Waffennarr trotz der Hinweise des Bruders nicht genauer unter die Lupe genommen hatten. Möglicherweise erschwerend kam hinzu, dass Mikolajczyk zwischenzeitlich nach Freiburg gezogen war, wo er einen zweiten Wohnsitz unterhielt und in einer Klinik für die Wartung der Heizungsanlage zuständig war.

Versuche, eine Zuverlässigkeitsprüfung einzuleiten, scheiterten. Dieses Verfahren hätte das Ziel gehabt, die Waffenbesitzkarte des Mannes einzuziehen, der bis Anfang der 1990er Jahre aktives Mitglied der Allgemeinen Schützengesellschaft Euskirchen gewesen war.

Die Kur bringt nichts

Dass Mikolajczyk unter psychischen Problemen litt, hatte sich schon Jahre vorher herauskristallisiert. Bereits 1989 hatte er sich in nervenärztliche Behandlung begeben. Doch auch nach einer Kur beschrieb die Regionalverkehr Köln GmbH (RVK), für die er als Busfahrer arbeitete, ihn als problematischen, aggressiven Menschen. Als man ihn Anfang 1991 zu einem Gespräch lud, weil bekannt geworden war, dass er ständig Waffen mit sich führte, kam es zum Eklat.

Fortan ließ die RVK ihn nicht mehr ans Steuer. Das Unternehmen gab ein medizinisch-psychologisches Gutachten in Auftrag – und es schrieb einen Warnbrief an die Euskirchener Polizei. Er enthielt unter anderem diesen Satz: „Es ist nicht auszuschließen, dass Herr Mikolajczyk im Affekt von einer seiner Waffen Gebrauch macht.“

Während der Brief an die Polizei zu keinen Konsequenzen führte, erhielt Mikolajczyk am 8. März 1991 von seinem Arbeitgeber die Kündigung. Zuvor hatte er sich geweigert, diesem seine Krankenakten zugänglich zu machen.

Der Amoklauf am Amtsgericht in Euskirchen jährt sich zum 30. Mal. Sieben Menschen starben, sieben weitere wurden teilweise schwer verletzt.

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Aus der Sicht der Opfer

Ursula Giels verlor beim Amoklauf in Euskirchen am 9. März 1994 ihren Mann, Tobias Giels seinen Vater.

Ursula Kurth hat ein merkwürdiges Gefühl an diesem 9. März 1994. Auch ihr Mann Peter kann morgens mit dem Tag nicht wirklich etwas anfangen. Er ist vors Amtsgericht geladen, weil er eine Zeugenaussage zu einem Benzindiebstahl machen soll. Der 37-Jährige arbeitet an der Aral-Tankstelle an der Kölner Straße in Euskirchen. Aushilfsweise. Eigentlich ist er Busfahrer, ein ehemaliger Arbeitskollege des Mannes, dessen Tat kurze Zeit später das Leben der Familie Kurth und sechs weiterer Familien schlagartig verändern wird.

Ein Anruf noch – vielleicht muss er doch nicht zum Gericht. Vergebens. Es hilft nichts. „Wir haben gefrühstückt, gemeinsam überlegt, was er anzieht und sogar die Haare gemacht. Eigentlich hatte mein Mann Locken, doch an dem Tag wollte er sie glatt haben“, erinnert sich Ursula Kurth.

Kurz vor dem Amoklauf: Opfer gibt seiner Familie einen Abschiedskuss

Mit blauer Samthose, Lederjacke und Westernstiefeln will Kurth um 13 Uhr die Nebenstelle des Amtsgerichts an der Oststraße aufsuchen. Seiner Frau gibt er einen Abschiedskuss, seinem fünfeinhalb Jahre alten Sohn Tobias streicht er über den Kopf und gibt ihm einen väterlichen Kuss. Was keiner ahnt: Es ist das letzte Mal, dass Ursula und Tobias Kurth ihren Mann und Vater lebend sehen.

Um kurz vor 13 Uhr erschießt Erwin Mikolajczyk am 9. März 1994 in der Nebenstelle des Euskirchener Amtsgerichts sechs Menschen und tötet sich anschließend mit einer selbst gebastelten Bombe. Sieben weitere Menschen werden zum Teil schwer verletzt. Mikolajczyks erstes Opfer: Peter Kurth. Der 37-Jährige ist gerade auf dem Weg zur Tür, will eine Zigarette rauchen. An der Tür zur Oststraße trifft er auf Mikolajczyk. Aus kürzester Distanz schießt dieser Kurth in den Kopf. So können es Ursula und Tobias Giels, beide haben ihren Mädchennamen angenommen, in den Polizeiakten nachlesen.

Hubschrauber waren vor 30 Jahren nach dem Amoklauf am Amtsgericht in Euskirchen im Einsatz.

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Flashback

Der 9. März 1994 hat sich tief in Mutter und Sohn eingebrannt. Während des Gesprächs mit der Redaktion zum 30. Jahrestag des Amoklaufs von Euskirchen scheint die Sonne. „Das ist wie vor 30 Jahren“, sagt Ursula Giels: „Es war aber ein bisschen wärmer.“ Als die Glocken der evangelischen Kirche läuten, hält die 63-Jährige inne. „Ich bekomme eine Gänsehaut. Der Tag lässt mich nicht los“, sagt sie.

Auch Tobias Giels kann sich an die Ereignisse vor drei Jahrzehnten erinnern – dank einer Hypnosetherapie, die der Euskirchener einige Jahre nach dem Amoklauf gemacht hat. Giels war noch ein Kindergartenkind, als er seinen Vater auf so schreckliche Weise verlor. „Wir haben bis etwa 11 Uhr noch auf dem Dr.-Hugo-Oster-Platz gespielt“, sagt der heute 35-Jährige. Gegen 12 Uhr geht es dann zum Kindergarten und anschließend nach Hause, wo sich sein Vater für den Gerichtstermin fertigmacht.

Nach Bluttat im Amtsgericht: Ehefrau spürt, dass ihrem Mann etwas passiert ist

Von dem, was gegen 13 Uhr in der Nebenstelle des Amtsgerichts passiert, bekommen Mutter und Sohn nichts mit. Oder zumindest nur sehr wenig. Die Detonation der selbstgebauten Bombe spürt Ursula Giels. Auch, dass die Fenster selbst am Keltenring noch leicht vibrieren, nimmt sie wahr. Und dann ist da dieses Gefühl – eine Art Mutterinstinkt für den Mann, mit dem sie am 9. März 1994 fast zehn Jahre verheiratet ist.

„Ich hatte Besuch von einer Freundin. Ich habe zu ihr gesagt, dass irgendwas mit Peter ist“, berichtet sie. Von den vielen Einsatzfahrzeugen, den zwei Rettungshubschraubern und dem Großaufgebot an Polizeibeamten rund um das Amtsgericht bekommen sie und ihr Sohn nichts mit.

Gegen 17.30 Uhr klingelt es. Warum ihr Mann klingelt, wenn er doch einen Schlüssel hat, fragt sich Ursula Giels. Die Antwort ist einfach, und schrecklich: Es ist nicht Peter Kurth, sondern die Kripo. „Sie wollten wissen, ob mein Mann einen Termin am Gericht hatte und was er anhatte. Das konnte ich sofort beantworten. Dann habe ich zu Beamten gesagt, dass mein Mann tot ist“, so die 63-Jährige. Etwa eine Stunde sei sie mit der Schreckensnachricht allein gewesen: mit einem Schock, Kreislaufproblemen, überfordert.

„Papa ist bei den Engelchen“

Sohn Tobias versteht die Nachricht der Beamten nicht, kann das Gesagte nicht einordnen. Er guckt Fernsehen – bis seine Mutter zum TV-Apparat stürmt und ihn hektisch ausmacht. „In den Nachrichten kam etwas zum Amoklauf“, erinnert sich Ursula Giels: „Davon sollte Tobias nichts mitbekommen.“ Hat er aber: An den Stiefeln erkennt er, dass auch sein Vater unter den Opfern ist.

Verstehen kann der Fünfjährige es nicht. „Papa ist bei den Engelchen“, sagt seine Mutter zu ihm. Ab da spricht Tobias kaum noch ein Wort. Für mehr als sechs Monate. Erst beim Kinofilm „Der König der Löwen“ verarbeitet er das Geschehen bei der Szene, in der Simbas Vater stirbt. „Das war meine ganz persönliche Therapie“, sagt Tobias Giels.

Aus den Polizeiakten kennen die Giels den Ablauf des Amoklaufs ziemlich genau – verstehen können sie die Tat bis heute nicht. „Die Behörden haben leider damals nicht richtig zugehört, als es darum ging, ob Mikolajczyk gefährlich war. Hinweise gab es genug“, sagt Ursula Giels.

Hinterbliebene versöhnen sich mit Familie des Täters

Wut tragen auch lange Tobias und seine Mutter Ursula Giels in sich. Doch davon ist heute nichts mehr vorhanden. Beide haben sich mit der Familie von Erwin Mikolajczyk ausgesprochen. „Ich wollte damals wissen, ob alle in der Familie so brutal sind“, sagt Ursula Giels. Die Antwort auf ihre Frage habe sie schnell erhalten. „Die Familie ist herzensgut. Erwin war wohl das Schwarze Schaf. Und deshalb ist es mehr als gut, dass wir Frieden mit der Tat von vor 30 Jahren geschlossen haben“, sagt sie.

Tobias Giels tauscht sich einen Tag vor dem Jahrestag des Amoklaufs mit dem Neffen von Erwin Mikolajczyk über den Messenger eines Sozialen Netzwerks aus. Er habe heute noch hin und wieder unter seinem Nachnamen zu leiden, berichtet der Neffe. Er sei aber sehr froh darüber, dass Ursula und Tobias Giels so unbeschwert mit ihm umgingen.

Für Tobias Giels ist das auch Teil des Verarbeitens. Sein Psychologe habe ihm zu dem Schritt geraten. Ein Schritt, den er nie bereut habe. „Die Familie Mikolajczyk ist sehr warmherzig. Mir hat das Ganze sehr gut getan“, sagt der 35-Jährige: „Wir wollten nie jemanden in Sippenhaft nehmen. Und wir sind sehr froh, dass wir das auch nicht müssen.“

Was er aber muss – 30 Jahre danach: an den 9. März 1994 denken. Jenen Tag, an dem er gut zwei Stunden vor der Tat nur wenige Meter von dem Ort entfernt gespielt hat, an dem kurze Zeit später sein Vater erschossen wurde.

Die hellen Fugen in der Fassade zeigen auch nach 30 Jahren noch die Spuren des Amoklaufs. Die Hinterbliebenen Tobias und Ursula Giels berichten von dem dramatischen Tag.

Tom Steinicke


RTL verfilmte Amoklauf noch im Jahr der Tat

Den Amoklauf von Euskirchen verfilmte RTL noch im Jahr 1994. Das dokumentarische Filmdrama trägt den Namen „Tag der Abrechnung“. In der Hauptrolle des Amokläufers Erwin Mikolajczyk steht der spätere Oscar-Preisträger Christoph Waltz vor der Kamera. „Wir schauen uns den Film jedes Jahr an“, sagt Ursula Giels, die am 9. März 1994 in Euskirchen ihren Mann verlor: „Und das, obwohl einiges bei dem Film nicht den Tatschen entspricht.“

Der Amoklauf von Euskirchen hat nicht nur die Kreisstadt geprägt. Seit der Tat haben sich die Sicherheitsmaßnahmen beim Betreten von Gerichtsgebäuden verändert. So muss am Amtsgericht in Euskirchen eine Schleuse, wie sie in Flughäfen üblich ist, passiert werden. Jeder Besucher wird von Hand kontrolliert und muss seine Taschen sowie deren Inhalt von Röntgengeräten durchleuchten lassen. (tom)